Innovativer, progressiver, digitaler - Der Fall Estland (Teil 1)
10 Gründe für den digitalen Erfolg (15.02.2018)
Förderjahr 2017 / Stipendien Call #12 / ProjektID: 2188 / Projekt: Das Konzept der e-residency

Kulturelle, historische und soziale Begebenheiten spielen eine entscheidende Rolle, weshalb es Estland möglich war, das Narrativ des digital leaders zu entwickeln. Andere Länder werden Estland nicht nachahmen können - und das ist auch gut so.

In den bereits veröffentlichten Blogbeiträgen habe ich versucht, Estland, aber auch das Programm der e-residency vorzustellen. Auch sollten bereits die vorhergehenden Blogbeiträge aufgezeigt haben, dass im digitalen Wunderland Estland auch nicht alles reibungslos funktioniert. Vielmehr hat der Aufenthalt gerade vor Ort gezeigt, wie sehr Anspruch und Wirklichkeit teilweise auseinanderdriften.

Anlässlich des 100. Unabhängigkeitsjubiläums möchte ich im Rahmen von zwei Blogbeiträgen 10 Gründe auflisten, welche für die Entwicklung von Estland hin zum internationalen digital leader eine Rolle spielen, aber auch für die Umsetzung der e-residency wichtig sind. Hierbei soll allerdings kein Anspruch auf Vollständigkeit für die Liste erhoben werden, sondern Eindrücke geteilt werden, die mein Verständnis für die e-residency maßgeblich geprägt haben.

small state, small power?

Zweifelsohne ist Estland ein kleines Land: 1,3 Millionen Einwohner zählt das Land und aufgrund des demographischen Wandels werden es jährlich 30.000 Menschen weniger. Eine Entwicklung, die, laut einem Interviewpartner, sicherlich auch ein Grund für die Implementierung der e-residency war. Schließlich soll und muss Geld in die Staatskasse gespült werden. Der progressive Ausbau der digitalen Infrastruktur war allerdings auch eine dankbare Möglichkeit der jungen und unabhängigen Nation, sich auf internationaler Ebene Gehör zu verschaffen: "Big players" wie die USA, Russland oder China können vielleicht mit einem höheren GDP, militärischer Macht oder einer größeren Bevölkerung auftrumpfen. Kleinstaaten wie der Vatikanstaat, Monaco oder eben Estland müssen hier schon andere Trümpfe auffahren, um sich auf dem internationalen Parkett Gehör zu verschaffen.

Estnische Diaspora

Schon bereits während der "Singing Revolution", welche Estlands Unabhängigkeit von der Sowjetunion einläutete, haben auch gerade die Mitglieder der estnischen Diaspora im Ausland die singenden Revolutionäre im Baltikum unterstützt. Auch und gerade beim Aufbau des jungen Nationalstaats waren dann wieder die Auslandsesten im Westen gefragt.

Nach der Unabhängigkeitserklärung zogen nicht wenige von ihnen zurück nach Estland, um in Wirtschaft und Politik tragende Rollen einzunehmen. Einer von ihnen ist etwa Toomas Hendrik Ilves, der vierte Präsident von Estland, welcher nach seiner Rückkehr in Estland maßgeblich den Digitalisierungsprozess und auch die Umsetzung der e-residency gestaltete.

Auffallend ist auch für mich persönlich, dass die meisten estnischen Interviewpartner, die ich bislang getroffen habe, auch jene Zweit- oder Drittgeneration von Esten darstellen, deren Großeltern und Eltern das Land verlassen haben und nach der Unabhängigkeit zurückgekehrt sind. Heute nehmen sie Schlüsselpositionen ein. Nicht selten erklären sie ungefragt, dass sie Kindheit, Jugend und Studium im Ausland verbracht hätten, sich allerdings als Esten verstünden. In Bezug auf die e-residents hat deshalb auch ein Interviewpartner herausgehoben, dass er die Gedanken von e-residents möglicherweise aufgrund seiner eigenen Geschichte besser nachvollziehen könne: Schließlich sei die Gruppe in allen Ecken der Welt zu Hause, dennoch verbinde sie etwas zu einem ihnen zumeist unbekannten Ort.

Kleines Land und kurze Entscheidungswege

Estland ist mit 1,3 Millionen Einwohnern ein kleines Land. Es ist kaum vorstellbar, dass sich in Österreich oder Deutschland Verantwortliche in der Regierung zum gemeinsamen Saunagang treffen, um die Agenda für den nächsten Tag zu besprechen. Zugegebenermaßen sind Saunagänge in Mitteleuropa weniger etabliert, aber höchstwahrscheinlich würde diese Kultur der kurzen Entscheidungswege in der Bevölkerung auch auf Unverständnis treffen.

Neue Infrastruktur

In den 90er Jahren hat Estland, anders als Österreich oder Großbritannien, seine digitale Infrastruktur auf dem Nichts aufgebaut. Dank der Tatsache, dass nicht bereits existierende Infrastruktur zu berücksichtigen war, konnten die Esten eine komplett neue Struktur aufbauen. Anders gesagt: Die ÖsterreicherInnen hätten Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte der Entbehrung erleben müssen, damit sie auch das „estnische Wunder“ der raschen Digitalisierung hätten erleben können. Wäre das im Sinne der ÖsterreicherInnen?

Alternativloses Narrativ

Das Narrativ des „Baltischen Tigers“ war für die 90er Jahre attraktiv. Wenn ein Land, wie Estland, ohne nennenswerte Bodenschätze oder bedeutenden kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen, auf dem internationalen Parkett bekannt sein will, dann baut es auf die Zukunft. Digitalisierung und Estland. Eine Symbiose.

Tags:

Estland e-residency Tallinn Digitalisierung digital society small state digital digital nation Baltikum Unabhängigkeit

Anna Mayer

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Anna Mayer ist Masterstudentin der Politikwissenschaft an der Universität Wien sowie Bachelorstudentin der Wirtschaftsinformatik an der TU Wien. Neben ihrem Interesse für das Wechselspiel zwischen Digitalisierung und Gesellschaft liest sie gerne analog Bücher, wahlweise in einem Kaffeehaus in Wien oder einem Café in Tallinn.
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