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Was sind Algorithmen?
Oder: was Technologien mit Gesellschaft zu tun haben (13.02.2023)
Förderjahr 2022 / Stipendien Call #17 / ProjektID: 6194 / Projekt: Algorithmen, AI und widerständige Praktiken

Was sind Algorithmen, was haben Maschinen mit Gesellschaft zu tun und droht dem Sozialen tatsächlich eine Zersetzung durch algorithmische Anwendungen?

Hinter dem inflationären und in der Debatte um gesellschaftliche Auswirkungen häufig negativ konnotierten Gebrauchs des Wortes "Algorithmus" verstecken sich vielschichtige Deutungen und Funktionsweisen eines Phänomens, das - in ebenso vielfältigen Weisen - Einzug in unseren Alltag gefunden hat. Aber was sind Algorithmen, was haben Maschinen mit Gesellschaft zu tun und droht dem Sozialen tatsächlich die viel beschworene Zersetzung durch algorithmische Anwendungen?

Algorithmen = Logik + Kontrolle?

Um der zeitgenössischen Bedeutung von Algorithmen und ihrer Relation zur technologischen Infrastruktur auf die Spur zu kommen, bedarf es eines geschichtlichen Exkurses: Abgeleitet vom Namen des um das Jahr 780 unserer Zeitrechnung in Zentralasien geborenen und später in Bagdad lehrenden Mathematiker und Universalgelehrten al-Chwarizmi bezeichnet die grundlegende Definition eines Algorithmus die genaue Aufschlüsselung von Einzelschritten zur Lösung eines bestimmten Problems. Die oft gebräuchliche Metapher des algorithmischen "Kochrezeptes" veranschaulicht dieses Prinzip, bei dem konkrete Ausgangsbedingungen (Zutaten, Mengen und benötigte Geräte) durch die Anwendung von Regeln (Arbeitsschritte) zur Problemlösung (der Zubereitung einer bestimmten Mahlzeit) führen. Damit kann jedes Regelsystem, dass unter der Prämisse von "wenn A, dann B" operiert und bestimmte Eingaben oder Bedingungen zu immer gleichen Ausgaben transformiert, als Algorithmus verstanden werden. Unter dieser, sehr allgemeinen Definition wird ersichtlich, dass Algorithmen schon vor ihrer formalen Definition durch die Mathematik und die entstehenden Computerwissenschaften im 20. Jahrhundert bereits in den frühen Tagen der Menschheit Medium zur Weitergabe von Wissen und Fertigkeiten darstellten und schließlich bereits die menschliche Sprache als grammatikalisches Regelsystem algorithmische Eigenschaften besitzt. Formalisiert unter der Gleichung "Algorithmen = Logik + Kontrolle" wurde das algorithmische Prinzip von Kowalski (1979), wobei unter Logik in diesem Kontext das "Wissen" bezeichnet wird, das zur Lösung eines Problems zum Einsatz kommt (Daten) und Kontrolle die Art und Weise spezifiziert, in der dieses Wissen angewendet wird (Regeln). "The logic component determines the meaning of the algorithm whereas the control component only affects its efficiency" (ebenda, S. 424). Ausgehend von dieser Definition will ich in den nächsten Schritten zeigen, wie die gegenwärtige Auseinandersetzung mit Algorithmen und ihr Beitrag zu unserer sozialen Wirklichkeit auf zwei Säulen fußt: der scheinbaren Allgegenwart von maschinellen Kontrollinstanzen und der umfassenden Vermessung der sozialen und materiellen Welt sowie ihre Überführung in maschinenlesbare Logik.

Die Allgegenwart der Maschinen

Waren frühe algorithmische Anwendungen lediglich von Menschen übermittelte und ausgeführte Handlungsanweisungen, wurden sie mit dem Aufkommen der Elektronik und der Informatik in Silizium beziehungsweise Computercode gegossen und ermöglichten damit eine Anwendung von Regeln und die Verarbeitung von Informationen, die menschliche Kapazitäten um ein Vielfaches überstieg. Die vergangenen Jahrzehnte haben durch immer schneller werdende Prozessoren, die zunehmende globale Vernetzung durch das Internet und die Digitalisierung von Prozessen, Kommunikation und Praktiken zu einer Ausbreitung in immer mehr Bereiche unseres Alltags geführt, die unter dem Begriff des "ubiquitären Computings" (Weiser 1991) bekannt ist. "The most profound technologies are those that disappear. They weave themselves into the fabric of everyday life until they are indistinguishable from it" (ebenda, S. 1). Die heutige Allgegenwart von computergesteuerten Prozessen und damit algorithmischer Abläufe zeichnet sich demnach nicht nur durch die Geschwindigkeit aus, mit der Regeln abgearbeitet werden, sondern auch durch ihr "Verschwinden" aus der menschlichen Erfahrung. Wenn jede erdenkliche Handlung bereits in direkter oder indirekter Relation zur technologischen Infrastruktur unserer digitalen Gesellschaft steht, tritt das ihnen zugrunde liegende Prinzip immer weiter aus der Wahrnehmung und offenbart sich lediglich als unhinterfragte Tatsache. Dabei ist Technologie niemals neutral, trägt sie doch, eingeschrieben in Design und Funktion, immer auch gesellschaftliche Annahmen, Werte und Normen in sich und somit auch zu deren (Re-)Produktion bei. Technologie, begriffen als die "Verfestigung" des Sozialen, wird somit zur stützenden Säule sozialer Ordnung, indem sie gewisse Handlungen ermöglicht und gleichzeitig andere vereitelt. Heutige algorithmische Systeme tragen zu dieser engen Verzahnung von Technologie und Gesellschaft maßgeblich bei, indem sie Informationen filtern, Abläufe regulieren und maßgeblich an Auswahlprozessen beteilitg sind.

Datafizierung - die Quantifizierung des Sozialen

Gleichzeitig mit der Möglichkeit, Informationen in hoher Geschwindigkeit zu verarbeiten, bedingt die Anwendung von Algorithmen auch die Verfügbarkeit von eben diesen Informationen. Durch die Überführung von der menschlichen in die maschinelle Verarbeitung algorithmischer Regeln musste schließlich auch die Wahrnehmung von Informationen durch die körperlichen Sinne einem maschinellen Verständnis zugeführt werden. Kann ein Mensch anhand von Intuition oder erlernter Praxis bestimmten, ob die Ausgangsbedingungen zur Anwendung bestimmter Regeln gegeben sind, um diese dann mehr oder weniger genau abzuarbeiten, müssen sämtliche dieser Informationen für einen Computer zuerst präzise in Zahlen "übersetzt", quantifiziert werden. Bezogen auf ein Kochrezept ein scheinbar einfacher Prozess, gilt es doch lediglich, bestimmte Mengenrelationen mit nominalen Attributen ("100 Gramm Mehl") zu verknüpfen und diese sequenziell und unter Rückgriff auf bestimmte Geräte miteinander zu verbinden. Doch bereits in Anbetracht von verschiedensten Qualitäten der Zutaten, materialspezifischen Effekten und Unterschieden bei der Zubereitung (etwa bei der Verwendung von Gas- oder Elektroherden) wird augenscheinlich, dass eine datenförmige "Verdoppelung" der Welt stets auch mit sozial determinierten Selektionsprozessen einhergeht, innerhalb derer gewisse Parameter priorisiert, andere vollständig ausgeklammert werden. Noch bedeutender wird dieses Moment bei der "Übersetzung" von sozialen Kategorien in maschinenlesbare Informationen: Was ist eine "Freundschaft"? Was qualifizierte eine "Neuigkeit"? Die "Datafizierung", also die sich durch Sensoren und Messgeräte immer weiter ausbreitende datenförmige Erfassung der Welt, fußt nicht nur auf den oben beschriebenen Errungenschaften der Elektronik, sondern führte gleichzeitig auch zu einem vermehrten Interesse an der Messbarmachung von zuvor als unmessbar wahrgenommen und zur Erfassung immer weiterer Lebensbereiche in einer Logik der Zahlen (beispielsweise "self tracking").

Algorithmen & Gesellschaft

Sowohl die Imagination, Entwicklung und Anwendung von Technologie, als auch die Erhebung und Messung von Daten sind damit Prozesse, die  innerhalb gesellschaftlicher Rahmenbedingungen geschehen und stets nur in Verbindung mit diesen verstanden werden können. Auch die scheinbare Objektivierung der Welt in Zahlen geschieht stets durch Menschen und trägt dementsprechende soziale Implikationen in sich. Steril wirkende mathematische Prozesse und ihre technologische Anwendung sind damit eng verbunden mit dem Sozialen - und umgekehrt. In diesem Beitrag wurde versucht, die Bedeutung von algorithmischen Systemen in Informationsgesellschaften herauszuarbeiten die zentralen Fundamente - die umfassende Rechenleistung und die systematische Messung von vormals unmessbarem - für ihre heutigen Erscheinungsformen aufzuzeigen. Doch nicht nur in ihrer wissenschaftlichen Rezeption, auch in unserer alltäglichen Wahrnehmung erscheint uns, dass Algorithmen eine umfassendere Rolle in unserem Zusammenleben zukommt als der metaphorischen Befolgung von Arbeitsschritten eines Kochrezeptes. Die Überwindung von Determiniertheit hin zur Unbestimmtheit algorithmischer Outputs durch Verfahren wie "Machine Learning" und die "Sozialisierung" von unbelebten Maschinen werden daher in meinen folgenden Beiträgen thematisiert.

Literatur

Kowalski, Robert (1979): Algorithm = logic + control. In: Commun. ACM 22, 7, 424–436. https://doi.org/10.1145/359131.359136 Weiser, Mark (1991): The Computer for the 21st Century. In: Scientific American, 9.

Thomas Zenkl

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Thomas Zenkl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Graz und interessiert sich für die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Technologien. In seinem Promotionsprojekt beschäftigt er sich mit der Frage, wie Algorithmen und KI-Anwendungen soziale Beziehungen über die ihnen innewohnende "algorithmischen Macht" beeinflussen sowie warum und auf welche Weise sich die Nutzer:innen solcher Systeme abweichend von den eigentlichen Intentionen der Systeme verhalten. Im Gegensatz zu einer technodeterministischen Perspektive zielt dieser Ansatz darauf ab, die Transformation menschlicher Handlungsfähigkeit (und nicht ihre Unterdrückung) in den Fokus der Betrachtung zu stellen und somit die konfliktträchtige gesellschaftliche Einbettung "sozialisierter Maschinen" zu beleuchten.
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